Der Sonntag begann wie ein typischer Sonntag damit, sich ein Piercing stechen zu lassen. Denn wer käme auch nicht auf die Idee in einem fremden Land, mit fremder Sprache Geld dafür zu bezahlen, eine Wunde zugefügt zu bekommen? Ninja würde das auf jeden Fall niemals machen. Falls aber doch, wären wir immerhin so schlau, Santiago darum zu bitten, uns zu begleiten. Und wie es für den kleinen Mexikaner üblich ist, wartet er bereits, als wir leicht verspätet am Piercingstudio ankommen. Das ist ein wirklich ungewohntes Verhalten für uns. In Deutschland beim Klausurlernen hatte sich bereits die Zeitangabe “mexikanische 9 Uhr” etabliert, bei der niemand vor 10 erschien.
Santiago zeigte uns auf jeden Fall, dass man nicht alle Mexikaner über einen Kamm scheren soll. Das soll man natürlich sowieso niemals bei irgendeiner Personengruppe machen. Und so betraten wir dann pünktlich irgendwann nach 14 Uhr das Studio. Dort wurde zu unserem Glück sogar Englisch gesprochen. Ninja suchte sich einen Stecker aus und durfte dann ihre Seele verkaufen. Die nette Frau dort erklärte ihr, was sie da wohl gerade unterschrieb, aber da der Text auf Spanisch war, können wir nicht ausschließen, dass bald eine Waschmaschine nach Hause geliefert wird.
Wir warteten einen Moment, bevor Ninjas Stündlein geschlagen hatte. Ich durfte nicht mit, deswegen kann ich nur vermuten, wie es ablief. Vermutlich folgendermaßen:
Der Piercer geht voraus durch einen dunklen Gang. Die Schritte hallen von den Wänden und sein Körper wirft einen bedrohlichen Schatten an das Gemäuer. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Knarzend öffnet sich eine schwere Holztür am Ende des Gangs. Ninja folgt ihrem Peiniger in die Folterkammer. Mit einem lauten Knall fällt die Holztür ins Schloss und Ninja weiß: Jetzt gibt es kein Zurück. Ihr Blick wandert über eine Holzliege, neben der bedrohlich aussehende Instrumente aufgereiht sind, dessen Zweck sie sich gar nicht ausmalen möchte.
Mit zitternden Knien nimmt sie Platz und ihre Arme und Beine werden mit Ledermanschetten festgeschnallt. Sie schließt die Augen und kann nur noch das Klirren des Folterbestecks hören. Kalt setzt sich die Nadel an ihr Ohr und sie fragt sich, wieso sie dafür auch noch Geld bezahlt, da spürt sie den stechenden Druck auf ihr Ohr. Langsam drückt sich die Spitze in ihr Fleisch, es ist ein Kampf. Die rosige Haut will nicht nachgeben, doch die Spitze presst sich unerbittlich weiter gegen sie. Niemand hört hier Ninjas verzweifelte Schmerzensschreie. Dann mit einem Mal hat die Nadel gesiegt und sich den Weg in das weiche, warme Ohr gebahnt. Es ist überstanden.
Ich glaube, dass an dieser Erzählung wenig Wahres dran ist, aber immerhin der Piercer sieht so aus, als könnte er in die Geschichte passen. Wenn er nicht lächeln würde und unfreundlich gewesen wäre.
Jetzt schmückt auf jeden Fall ein blauer Stecker Ninjas leicht gerötetes Ohr. Zwei Mal täglich soll sie die Stelle reinigen, ansonsten bedarf es keiner weiteren Pflege.
Nachdem Ninja Schmerzen zugefügt wurden, werden meine erstmal gelindert und ich kaufte mir Sonnencreme und After-Sun. Da ich aus meinen Fehlern lerne und auf meine Mutter höre (ich hab dich lieb, falls du das liest), cremte ich mich brav ein und wir machten uns auf den Weg, Ninja für ihr Tapferkeit zu belohnen. Wir aßen Eis. Als Santiago eine Kugel “Tuna” bestellte, konnten wir unseren Ekel nicht verbergen. Er erklärte uns, dass das Wort auch eine Frucht meint. Wir durften probieren und feststellen, dass es nach Honigmelone schmeckte. Lecker.
Anschließend zogen wir los, um ein Shoppingcenter zu besuchen. Auf dem Weg dahin kamen wir an Sportgeräten in einem Park vorbei. Ähnlich wie bei den Eichhörnchen zogen wir zwei Spielkinder los, während unser kleiner Mexikaner das Ganze beobachtete. Ninja blühte als Turnerin regelrecht auf und spürt auch zwei Tage später in Form von Muskelkater noch die Auswirkungen des sportlichen Exzesses.
Während wir an irgendwelchen Sportgeräten rumspielten, telefonierte Santiago mit Jesús, der später noch dazu kommen wollte. Er fragte, ob wir später seine Tante besuchen wollen. Wir erwarteten, dass das bedeutet, dass wir mal für ein halbes Stündchen der Tante Hallo sagen, die direkt in der Stadt wohnt und sagten zu, wenn es keine Umstände macht.
Das Einkaufscenter ähnelte sehr denen in Deutschland sowohl im Angebot (auch hier gibt es bereits Mitte September Weihnachtsdekoration), als auch im Preis. Und nachdem Ninja sich an einem iPhone zu schaffen gemacht hatte, auch in der Sprache.
Wir schlenderten einmal durch das Center, dann machten wir uns auf den Heimweg, nachdem wir noch im Supermarkt waren. Weil die Mexikaner sich so viel Zeit für uns nehmen, haben wir in dem ein oder anderen Lokal mal die Rechnung übernommen. Das ist natürlich ein absoluter Kulturschock, weil die Jungs ja nicht annehmen können, dass zwei Mädchen sie einladen. Irgendwie kriegten sie es aber doch hin. Dafür schnappte sich Santiago im Supermarkt alle Einkaufstüten mit der Erklärung, dass er jetzt an der Reihe wär, wenn wir ihn schon nicht bezahlen lassen und trug sie das glücklicherweise nur kurze Stück zur Wohnung. Dort kam dann auch Jesús dazu, der uns Haarschleifen in den mexikanischen Farben mitgebracht hat. Vorher hatten wir schon passende Ohrringe bekommen, die wir auch brav trugen. Mit den Schleifen waren wir sowas von akklimatisiert. Im Gegensatz zu unseren Begleitern, die einfach normal herumliefen. Wir fuhren Richtung Zentrum und wollten auf einen großen Platz gehen. Die Parkplatzsuche beanspruchte mal wieder mehr Zeit als die eigentliche Fahrt, aber irgendwann hatten wir es doch geschafft und zogen durch die belebten Straßen. An einem Stand wurden Maiskolben verkauft. Auf Empfehlung unserer Mexikos hin kauften wir 2 und ließen außer Acht, dass wir nicht von Straßenständen essen wollten. Der lauwarme Kolben wurde dick mit Mayo eingeschmiert, bevor Käse draufgestreut wurde. Für mich kam auch noch ein Gewürz namens Piquin drauf, das scharf sein sollte, aber harmlos war. Wir waren noch skeptisch, ob unser Mägen es verkraften würden. Spoiler: Es ist alles gut gegangen.
Wir kamen am Plaza de la Constitucion an, über den Ninja jetzt noch ein paar interessante Fakten raussuchen würde, wofür ich aber zu faul bin. Sagen wir einfach, das ist der wichtigste Platz, an dem auch der Präsident etwas zum Unabhängigkeitstag sagen würde. Unsere Mexikos warnten uns, dass wir in dem Getümmel auf unsere Sachen aufpassen sollen. Was stellte sich heraus? Die beiden waren selbst noch nie hier. Sehr qualifizierte Reiseführer. Es ist aber längst nicht so eng, wie wir erwartet haben. Wir stellten uns mitten auf den Platz und konnten eine Bühne sehen, die auch noch auf Leinwände übertragen wurde. Dort wurden typische Tänze der verschiedenen mexikanischen Staaten aufgeführt. Wir blieben eine Weile auf dem Platz, dann wurde es wohl Zeit, Jesús’ Tante zu besuchen.
Also ging es zurück zum Auto und dann zur Bahn. Auf der Fahrt telefonierte Jesús mit seinem Schwager, den wir noch einsammeln würden, ebenso wie seinen Onkel. Die dunkle Stimme, die man durch das Handy hören konnte, erinnerte an das Klischee des Mafioso. Aber natürlich machten wir uns nicht darüber lustig. An der Bahn tauschten wir dann Santiago, der zu seiner Familie fuhr, gegen den Mafioso Ramon. Der zwei Meter große Mann mit den kantigen Gesichtszügen und dem großen Kopf passte gut zu der Stimme am Telefon. Dann ging es zum Onkel, der wohl sehr ernst sein sollte. Ich rutschte auf den mittleren Sitz, der natürlich keinen Anschnaller hatte und ein kleines Opachen stieg ein. Wir wurden schon darauf vorbereitet, dass bei der Familie kaum jemand Englisch sprechen würde. So langsam begriffen wir auch, dass wir nicht kurz reinschneiten, sondern den Abend dort verbringen würden. Wir machten uns auf den Weg, der wohl 1 1/2 Stunden dauern würde. Damit begann der absurd-lustigste Abend der Reise. Ramon telefonierte ständig berufsbedingt. Das passte natürliche gut zu unserer Mafioso-Vorstellung und wir überlegten uns, was er wohl gerade anordnete. “Wenn er nicht redet, wisst ihr doch was zu tun ist… Ja, klein, ungekennzeichnete Scheine…”
Währenddessen packte Väterchen eine Tüte Gummibärchen aus und bot uns welche an. Mit Jesús’ Hilfe konnten wir uns einen Moment unterhalten. Väterchen erklärte, dass er mal in Deutschland, genauer in Berlin, war. Wenig später sackt sein Kopf auf seine Brust und wackelte im Rhythmus der Schlaglöcher hin und her. Vorne der Mafioso, links der Opi, unangeschnallt auf mexikanischen Highways und im Hintergrund lief Countrymusik. Auch wenn wir Jesús vertrauten, war es eine etwas absurde Situation. Als es dann auch noch in entlegene Gassen einer dunklen Kleinstadt ging, war das Angstszenario komplett. Immerhin war vom schlafenden Väterchen keine Gefahr zu erwarten.
Wir parkten vor einem kleinen Haus und wurden beim Eintreten lebhaft begrüßt. Die ganze Familie saß im Wohn-/Essbereich, beobachtete den Plaza, auf dem wir selbst vorher waren, über den Fernseher und ließ das Abendessen sacken. Es begann eine chaotische Begrüßungsrunde. Beide Seiten waren unbeholfen, ob ein Handschlag oder ein Wangenkuss angemessen war, weshalb es in einem Mischmasch endet. Spanische Begrüßungsfloskeln konnten wir leider weder verstehen noch erwidern, was aber nicht störte. Wir Neuankömmlinge setzten uns an den Esstisch und unterschiedlich zubereitetes Schweinefleisch wurde aufgetischt, ebenso wie Bohnenpaste. Dazu gab es Tostadas, das sind getoastete, harte Tortillas, auf die Sour Cream geschmiert wird. Das isst man dann zur Bohnenpaste und dem Fleisch.
Leicht ausgehungert griffen wir zu und ließen es uns schmecken. Währenddessen lief das Familienleben weiter, es wurde gequatscht und gelacht und sie waren so lieb, die Gespräche zu übersetzen. Dadurch erfuhren wir, dass sie sich gegenseitig ärgerten. Jesús Onkel Marco, in dessen Haus wir waren, war ein ruhiger Geselle, der hauptsächlich durch Essen mit uns kommunizierte. Dazu mixte er zumindest für Jesús und mich Tequila mit Limette und Cola. Wir hatten unseren Mexikos bereits in Monterrey beigebracht, dass man in Deutschland beim Anstoßen in die Augen gucken muss, weil es sonst 7 Jahre schlechten Sex bringt. Als wir jetzt alle anstießen und darauf bedacht waren, den Augenkontakt zu halten, begann Jesús auf Spanisch den Brauch zu erklären. Sein 7-jähriger Neffe war ebenfalls anwesend und ohne Spanisch zu können, verstanden wir sehr gut, wie Jesús irgendwann ins Stocken geriet bei dem Versuch, den Brauch jugendfrei zu erklären. Seine Familie verstand und sein Neffe wurde nicht verdorben.
Auf einmal war Fotosession angesagt. Meine angemümmelte Tastadas parkte ich auf dem “Teller” (ein Styroporschälchen), bevor drei Handies gleichzeitig auf uns gerichtet wurden. Scheinbar war nicht nur für uns der herzliche Empfang in einer mexikanischen Familie etwas Besonderes, sondern auch der Besuch zweier Deutscher für eine mexikanische Familie nicht alltäglich. Sie erklärten uns, dass der Unabhängigkeitstag erst richtig um Mitternacht anfangen würde und dass die Tante, also Marcos Frau dann Geburtstag haben würde. Also erwarteten wir, dass um Mitternacht wie an Silvester heruntergezählt würde.
Etwas überfordert von den ganzen Eindrücken saßen wir am Tisch und folgten den Gesprächen, als ein Teller mit Tamales neben uns erschien. Das ist ein Gericht, das es entweder süß oder herzhaft gibt, in diesem Fall war es süß und zur Kennzeichnung pink eingefärbt. Zu den Zutaten gehören Maismehl, Eier und Schmalz. Bei der süßen Variante ist in der Mitte Flan, ein spanischer Pudding. Zubereitet wird das Gericht entweder in Mais- oder Bananenblättern.
Tamal wurde auf jeden Fall eine unserer Lieblingsspeisen hier. Als wir sowieso schon satt waren, wurde Milchreis aufgetischt. Das wird tatsächlich für ein typisch mexikanisches Essen gehalten. Wir löffelten brav den Nachtisch, der ähnlich zur deutschen Variante schmeckt und lobten ihn. Marcos Blick blieb für den außenstehenden Beobachter unverändert, aber die anderen erklärten uns, dass es seinem Ego gut tut, dass Deutsche sein Essen loben.
Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es bereits nach Mitternacht war. Ok, schien ja jetzt doch nicht so wichtig zu sein, weder der Unabhängigkeitstag, noch der Geburtstag. Kurz wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass der Präsident gerade sprach, dann verloren wieder alle das Interesse und widmeten sich ihren Gesprächen. Irgendwann holte das Geburtstagskind seinen Kuchen und begann, ihn mit einem Plastikküchenschaber zu schneiden. Hatte ich auch noch nie gesehen.
Außerdem gab es Wackelpuddingkuchen. Wir waren ja schließlich auch noch nicht statt genug. Als danach dann noch ein Stück Kuchen aufgetischt wurde, konnten wir leider nicht mehr essen und packten es ein.
Mit gebrochenem Spanisch bedankten wir uns bei Jesús’ Mutter, einem kleinen, süßen Persönchen, für die Gastfreundschaft und den herzlichen Empfang. Wir verstanden erst mit Übersetzung, dass sie antwortete, dass es kein Haus, sondern ein Zuhause und wir Teil der Familie sein. Kann man ein schöneres Kompliment bekommen?
Nachdem sich wieder herzlich mit Umarmungen und Küsschen verabschiedet wurde, machten wir uns schließlich auf den Heimweg. Da Jesús auch einen Tequila getrunken hat, meinte er zu Ninja, dass sie doch fahren sollte. Er hatte wohl nicht erwartet, dass Ninja wirklich fahren würde. Allerdings nahmen wir Väterchen wieder mit in die Stadt und er würde nicht wollen, dass Ninja fährt. Zwar sackte sein Kopf schnell wieder auf seine Brust, aber wir wollten ihn ja trotzdem nicht ärgern. Nach etwas über einer Stunde war Väterchen Zuhause und Ninja stieg auf den Fahrersitz. Der 21 Jahre alte Jeep hat für Jesús einen großen emotionalen Wert und er hat schon viel Arbeit und Geld reingesteckt, was den Druck auf Ninja natürlich nicht erhöhte. Sie fuhr souverän über die Straßen Mexikos, geleitet von unserem Mexikaner, der allerdings nicht ganz aufmerksam war, wodurch wir noch eine Runde mehr drehen konnten. Nach rund 10 Minuten waren wir an der Wohnung angekommen. Da ich mir die einmalige Chance nicht entgehen lassen wollte, in Mexiko Autozufahren, tauschten wir Plätze und ich fuhr einmal um den Block.
Danach folgte bereits der erste Abschied, da wir Jesús nicht wiedersehen würden. Mit Kuchen auf der Motorhaube machten wir ein Selfie und beteuerten, dass wir uns auf jeden Fall Wiedersehen würden.
Gegen 3:30 Uhr fielen wir überwältigt von der Gastfreundschaft ins Bett und hatten durch die erste Verabschiedung bereits dieses blöde Gefühl der Abreise.
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